Ausschnitt aus dem Essay von Jonas Lüscher
Kälte des Herzens
Das Verbot spezifischer Bauwerke einer einzelnen Religion, die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, die irgendwie an Völker- und Menschenrecht vorbeigewurstelt werden muss, die neue Asylgesetzgebung – und hier täuscht auch die eigentlich begrüssenswerte Verkürzung der Asylverfahren nicht über deren verschärfenden Charakter, über den geschichtsvergessenen Lagergeist, über die Abschaffung des Botschaftsasyls und der Wehrdienstverweigerung als Asylgrund hinweg: Diese von einer Mehrheit gewollten Gesetzesnovellen sind bestens dazu angetan, für Leid, Schmerz und Demütigung zu sorgen.
Eine Kälte des Herzens geht von diesen Entscheidungen aus und eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer, ein Mangel an Toleranz und Mitgefühl, ein latenter bis manifester Rassismus.
Aber ist es nicht auch hartherzig, die Ängste einer Mehrheit nicht ernst zu nehmen? Ja, in der Tat, ich mag sie nicht ernst nehmen, diese Ängste, denn erst einmal müssen wir die Verhältnisse geraderücken. Die Gefahr, dass ein Bürger unseres Landes hungern muss, eine einzige Nacht in seinem Leben ohne Dach über dem Kopf verbringen muss, an Leib und Leben bedroht, eingesperrt und gefoltert wird, nicht sagen darf, was er will, nicht lesen darf, was er will, nicht lieben darf, wen er will, nicht zur Schule gehen darf, ist recht gering. Dass ein Somalier, ein Afghane, ein Nigerianer solches erlebt, damit muss er rechnen.
Ist denn eine Mehrheit unserer Bevölkerung nicht mehr in der Lage, sich die Perspektivlosigkeit eines Menschen vorzustellen, die so existenziell ist, dass er bereit ist, alles hinter sich zu lassen und unter Lebensgefahr in die totale Fremde aufzubrechen? Oder brauchen sie sich das nicht vorstellen, weil der Begriff des «Wirtschaftsflüchtlings» (der in unserem Land synonym zu sein scheint mit «Verbrecher») sie davon befreit und sie deswegen diese völlige Perspektivlosigkeit auch nicht mit dem Reichtum an Möglichkeiten in Beziehung setzen müssen, die wir hierzulande haben.
Aber eine Schweizer Strasse, die können wir uns alle vorstellen. Eine belebte Strasse in einer durchschnittlichen Schweizer Stadt, vielleicht kurz vor Ladenschluss, die Menschen gehen ihren Geschäften nach. 333 Menschen. Einer von ihnen ist ein Asylsuchender. Einer. Wäre es wirklich so ein Problem, wenn es zwei oder drei wären? Es sind ganz andere Boote, die voll sind, und in diesen ertrinken Menschen, täglich.
Als sei das Gute undenkbar
Wer solches zu bedenken gibt, wird als naiver Gutmensch abgetan – aber was ist das für eine Gesellschaft, in der der Mensch, der Gutes will, als Schimpfwort taugt? Als sei das Gute undenkbar.
Die Fassungslosigkeit angesichts der Abstimmungsresultate ist auch nicht das fleischgewordene Gespenst des multikulturellen «Friede, Freude, Eierkuchen», sie ist vielmehr Ausdruck eines Vertrauens in die Problemlösungsfähigkeiten eines humanistischen, demokratischen Sozialstaates. Diese fremden Menschen, die zu uns kommen, brauchen nicht unbedingt unsere Freunde zu werden. Wir müssen sie auch nicht alle mögen. Sie können uns vielleicht sogar fremd bleiben. Und trotzdem sind wir ihnen verpflichtet.
Wir brauchen es auch nicht gut zu finden, dass Minarette gebaut werden. Ich persönlich würde mich freuen, wenn eines Tages niemand mehr das Bedürfnis hätte, ein Minarett zu bauen; einfach weil ich der Überzeugung bin, dass es besser wäre, wenn wir unsere Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits aufgeben würden zugunsten einer Hoffnung auf ein besseres Leben für kommende Generationen. Aber es ist ein wichtiger Unterschied, ob wir Menschen dazu überreden oder sie dazu zwingen.
Wir sind auch nicht blind für die Probleme, die mit der Immigration kommen. Aber wir halten sie für lösbar und aushaltbar. Weil wir einen stabilen, handlungsfähigen Staat haben. Weil wir es uns als Nation leisten können. Weil es uns so gut geht. Ja, es sind der Wohlstand und die Möglichkeiten unserer Nation, die diese Mehrheitsentscheide so unanständig machen. Eines sollten wir nicht vergessen: Schweizer zu sein, ist keine Leistung, es ist ein Zufall, der gnädige Zufall der reichen Geburt.
Ausschnitt aus dem Essay «Die unanständige Mehrheit» von Jonas Lüscher erschienen im kleinen Bund vom 31. Juli 2013
Ganzer Artikel inkl. Diskussion hier